In der Diskussion über deutsche Außenpolitik wird oft ein Spannungsverhältnis zwischen werteorientierter und interessengeleiteter Politik konstruiert. Doch dieser Gegensatz ist irreführend und verdeckt viel grundsätzlichere Fragen, die dringend gestellt werden müssen.
In außenpolitischen Kontroversen wird häufig der Eindruck erweckt, als stünden sich wertebasierte und interessengeleitete Positionen unversöhnlich gegenüber. Tatsächlich jedoch berufen sich alle großen, staatstragenden Parteien auf bestimmte Werte — wenn auch mit unterschiedlicher Betonung: Für die Unionsparteien ist „der Westen“ zentral, für die Grünen stehen Völkerrecht und Menschenrechte im Vordergrund, während Sozialdemokraten den Frieden als Leitprinzip betrachten.
Das zeigt sich exemplarisch in nahezu allen großen außenpolitischen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte. Während der Irakkrise 2003 etwa verlief die Trennlinie zwischen der Betonung der Bündnistreue gegenüber den USA (CDU/CSU) einerseits und der Orientierung am Völkerrecht (Grüne) sowie dem Primat des Friedens (SPD) andererseits. Im Kontext von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen auf der einen Seite der Wunsch nach einem raschen Frieden (SPD), auf der anderen Seite die Verteidigung des Völkerrechts (Grüne) und die Wahrnehmung eines grundlegenden Systemkonflikts (CDU/CSU).
Selbst im vergleichsweise konsensgeprägten Umgang mit Israel lassen sich unterschiedliche Gewichtungen erkennen, insbesondere zwischen denjenigen, die Menschenrechte und Völkerrecht in den Mittelpunkt stellen (Grüne), und jenen, die Israel als Vorhut westlicher Werte sehen (CDU/CSU). Der entscheidende Punkt ist: In all diesen Fällen ging es nicht primär um einen Gegensatz zwischen Werten und Interessen, sondern um konkurrierende Werte.
Scheingefechte
Hinzu kommt, dass die Unterscheidung zwischen Werten und Interessen häufig weniger trennscharf ist, als es auf den ersten Blick scheint. So versteht die Union den Westen eben nicht nur als Wertegemeinschaft, sondern zugleich als Garant für Sicherheit und Wohlstand. Wenn sich die Grünen für das Völkerrecht stark machen, dann oft mit dem Hinweis darauf, dass auch Deutschland von einer „regelbasierten Ordnung“ profitiert. Und selbst sozialdemokratische Friedenspolitik wird häufig nicht als Selbstzweck präsentiert, sondern als Grundlage für Stabilität und wirtschaftliches Wohlergehen. Wie Willy Brandt einst formulierte: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“.
Die Debatte über Werte versus Interessen in der Außenpolitik ist also letztlich ein Scheingefecht. Viel entscheidender für die deutsche Außenpolitik ist die Frage, wie wir unsere zentralen Werte — die Westbindung, das Völkerrecht, die Menschenrechte und den Frieden — in einer sich rasant wandelnden internationalen Ordnung neu denken und wirksam gestalten können.

In der Praxis bedeutet dies in vielen Fällen ein Ende lang gehegter Illusionen. Was bleibt etwa vom Westen übrig, wenn sein zentraler Pfeiler — die Vereinigten Staaten — wegbricht? Eine oft gehörte Antwort lautet: Europa. Doch kann Europa aus eigener Kraft wirklich stark genug sein, um weltweit für Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft einzustehen? Und was passiert, wenn in zwei oder drei Jahren überall auf dem Kontinent Parteien an die Macht kommen, die diese Agenda offen ablehnen?
Anstatt dem schleichenden Verfall tatenlos zuzusehen, wäre jetzt der Moment, den Westen neu zu erfinden: nicht mehr nur als exklusiven Klub weißer Nationen, sondern als echte, globale Wertegemeinschaft.
Genauso dringend ist der Gesprächsbedarf bei den Themen Menschenrechte und Völkerrecht. Wie glaubwürdig — oder sinnvoll — ist unser Einsatz für universelle Menschenrechte, wenn in aller Regel die Mittel und der politische Wille fehlen, um sie durchzusetzen? Wie gerecht ist eine „regelbasierte Ordnung“, deren Regeln und Strukturen auf einer westlich dominierten Nachkriegsordnung beruhen, die gerade dabei ist, zu verschwinden? Und wie soll Völkerrecht überhaupt funktionieren, wenn die mächtigsten Player auf eine neue Ordnung hinarbeiten, die nicht von souveräner Gleichheit, sondern von hegemonialen Einflusszonen geprägt ist?
Auch hier gilt: Statt auf altbekannten Ideen und Prinzipien zu pochen, sollten wir den Mut aufbringen, völlig neu zu denken — und zwar nicht, um die „alten“ Werte über Bord zu werfen, sondern um so viel wie möglich von ihnen zu bewahren.
Am weitesten fortgeschritten ist die Debatte zweifellos bei den Themen Frieden und Sicherheit. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 erkennen viele Deutsche, dass Frieden kein Normalzustand ist, sondern gegen Aggression verteidigt werden muss. Und die meisten verstehen auch, dass dafür eine gut ausgerüstete, einsatzfähigen Armee erforderlich ist, die Geld kostet und politischen Rückhalt braucht.
Doch selbst dieser Minimalkonsens ist brüchig. Von einem umfassenden Verständnis von Sicherheit, das über die Forderung nach „mehr Geld für die Bundeswehr“ hinausreicht, sind Politik und Bevölkerung noch weit entfernt. Und die wohl drängendste Frage bleibt unbeantwortet: Wie kann Sicherheit und Frieden in Europa gewährleistet werden, wenn die USA sich aus ihrer Schutzrolle zurückziehen?
Endlosdebatten
Kurz gesagt: Die Herausforderungen sind gewaltig. Will Deutschland im 21. Jahrhundert außenpolitisch handlungsfähig bleiben, muss es die grundlegenden Prinzipien und Annahmen seiner Politik auf den Prüfstand stellen. Das seit Jahren praktizierte permanente Krisenmanagement — oft eher reaktiv als wirksam — reicht dafür nicht aus. Denn die Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, sind keine isolierten Einzelereignisse, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung. Um in dieser neuen, für Länder wie Deutschland schwierigeren Welt zu bestehen, braucht es eine grundlegend neue Strategie.
Mehr noch als für andere Länder gilt deshalb für Deutschland, was der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa vor siebzig Jahren so treffend formulierte: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern“.
Das Letzte, was wir brauchen, ist eine aufgeblähte Endlosdebatte über Werte versus Interessen. Unsere Werte sind unsere Interessen — und umgekehrt. Die entscheidende Frage ist, was diese Werte — oder Interessen — in der Praxis bedeuten. Und vor allem, wie wir sie in einer sich rapide verändernden Welt realisieren.
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